Martin Buber-Plakette 2022 für Sabriye Tenberken und Paul Kronenberg!

Das Thema des Internationalen Festivals des Dialogs EURIADE ist in der ersten Hälfte dieses Jahres aufs Engste verbunden mit den beiden Personen, welche am 16. Juni im HuB Theater zu Kerkrade die Martin Buber-Plakette 2022 erhalten: Sabriye Tenberken und Paul Kronenberg. Sie gründeten im südindischen Kerala ein internationales Institut für Sozialvisionäre mit dem Namen „kanthari“.
Der Name „kanthari“ ist von Sabriye und Paul mit Bedacht gewählt worden. Sie meinen dazu: 

„Die kanthari ist eine Chilli-Art, die in Kerala im Abseits wächst. Wenn sie Wurzel geschlagen hat, übersteht sie Dürren und Fluten. Die kleine ‚kanthari‘ sieht harmlos aus, schmeckt aber scharf und feurig auf der Zunge. Sie wirkt blutreinigend, ist schmerzlindernd und senkt den Blutdruck. Sie ist für uns daher Symbol und Namensgeber für unsere Teilnehmenden, die wie diese besondere chilli‘s am Rande der Gesellschaft Wurzeln geschlagen haben, allen Widrigkeiten trotzen und mit Biss und feurigem Engagement gegen gesellschaftliche Missstände kämpfen.“

Bei den Teilnehmenden, die ein Jahr intensiv am kanthari Institut ausgebildet und auf ihre Arbeit vorbereitet werden, handelt es sich um Menschen aus den Randzonen der Gesellschaft, Menschen, die etwas erlebt oder überlebt haben und dadurch die Kraft schöpfen, lokale Probleme im sozialen Kontext oder im Umweltbereich nachhaltig zu lösen. Es geht dabei um Frauen, die Gewalt erfahren haben und nun Trainingszentren für Frauen gründen, ehemalige Straßenkinder, die aus eigener Betroffenheit heraus Straßenkinderprojekte ins Leben rufen, junge Menschen, die Krieg erleben und Friedensinitiativen anstoßen, es geht um Umweltaktivisten, die für eine Zukunft mit sauberen Gewässern und gesunden Wäldern kämpfen und um Menschen mit Behinderungen, die ihre eigenen Schulen und Trainingsprojekte auf die Beine stellen. Seit 2009 wurden 258 Sozialvisionäre aus 53 Ländern ausgebildet. Zurzeit gibt es bereits mehr als 160 soziale und umwelt-orientierte Initiativen, die umgesetzt wurden und täglich Tausende von Bedürftigen fördern und ihr Leben somit langfristig positiv verändern.   
Dabei geht es nicht um „Charity“, sondern um „Empowerment“: „Wir geben ihnen nicht die Lösungen in die Hand, sondern die Techniken, ihre eigenen Lösungen zu finden und umzusetzen. Es geht uns um ‚change from within‘ „, so Sabriye und Paul.  

Die Geschichte der beiden ist ungewöhnlich:
Sabriye Tenberken stammt aus Bonn. Trotz der Tatsache oder vielleicht auch aufgrund der Tatsache, dass sie seit dem 12. Lebensjahr vollkommen erblindet ist, entschied sie sich beruflich für ein großes Abenteuer. Sie studierte Tibetologie, Soziologie und Philosophie und entwickelte für ihr Studium eine tibetische Brailleschrift, die heute als offizielle Blindenschrift anerkannt ist. Mit dieser Schrift reiste sie eigenständig nach Tibet wo sie, gemeinsam mit dem niederländischen Forscher und Techniker Paul Kronenberg, den sie dort kennenlernte, die erste Blindenschule samt Trainingsfarm für blinde Erwachsene gründete. Da beide nie auf ihre schwierigen Herausforderungen in der autonomen Region Tibet vorbereitet wurden, entstand die Idee für kanthari, für das Impact Leadership Institute for social and environmental change (www.kanthari.org).
„Zu uns kommen diejenigen, die, wie wir auch, ihr Leben und ihre Herausforderungen selbst in die Hand genommen haben. Sie kommen zu uns mit einer großen Idee, einem großen Traum, die Gesellschaft in ethischer Weise zu verändern. Doch wenn Du in unserer Gesellschaft einen großen Traum hast, dann hörst du immer das Gleiche: ‚Bleib‘ mal lieber auf dem Teppich! Greif nicht nach den Sternen!‘  Im kanthari Institut werden aber die „Träumenden“ ermutigt, ihre Ideen umzusetzen und wir geben ihnen die Werkzeuge dafür an die Hand. Bei uns lernen sie alles, was man benötigt, um sozialen Wandel anzustoßen. Fundraising, Medienarbeit, Projektplanung und Management, den Aufbau einer Organisation und sogar umweltfreundlichen Bau von Gebäuden, Landschaftsplanung und vieles mehr.“

Alle, die diese Ausführungen lesen bzw. sich mit den Werken von Sabriye und Paul weiter beschäftigen, werden verstehen, dass beide im wahrsten Sinne des Wortes mit der Martin Buber-Plakette ausgezeichnet werden „müssen“… Sind beide doch lebendige Animation, Inspiration, Motivation, sich um „ANDERE“ in unserer Gesellschaft zu kümmern. Anders gesagt: den Anderen ein Partner zu sein im Sinne des Buberschen „ICH und DU“!

Wir, die wir die Martin Buber-Plakette an Persönlichkeiten verleihen, die sich im MIT-MENSCHLICHEN Sinne hervortun, möchten unsere Freunde und Gäste und unter ihnen vor allem die jungen Teilnehmer an dem EURIADE-Projekt „Jugend im Dialog“ mit den Werten und Werken von Sabriye und Paul nicht nur bekannt machen, sondern sie auch in Gesprächen mit den beiden und beim Festakt der Verleihung bewusst machen, was sie selber anregen, gründen, verantworten können, sollen…
Dies unter dem Motto, dem Titel, dem thematischen Aufruf: „SCHAUE MIT DEM AUGE DES ANDEREN!“

Interessant dürfte es in diesem Zusammenhang sein, dass Martin Buber als Grundlage für sein dialogisches Prinzip bzw. der dabei zu realisierenden ICH und DU-Beziehung diese Aktivität des „Schauens mit dem Auge des Anderen“ als Voraussetzung in den Vordergrund stellt (siehe auch die Einführung in diesem Heft).
Wenn wir nämlich unsere eigene Sicht verlassen, dürften wir mit dem Auge des Anderen dessen Sicht erfahren und erleben. Dabei könnten oder sollten wir den Anderen und dessen Worte gelten lassen, seine Umstände und Perspektiven respektieren und vor allem nicht diesem Anderen mit unserer Sicht oder Meinung ins Wort fallen, ihm dieses Wort vielleicht sogar abnehmen oder ihm womöglich unsere Worte aufdrängen.
Nur so kann es über das echte Gespräch zu Begegnungen kommen, die mehr sind als ein bloßes Treffen: zu beglückenden VERBUNDENHEITEN.

Werner Janssen